Falsches Gleis

 

Manchmal entweicht mir mein Gesicht. Durcheinander ist es dann, nichts ist mehr an seinem Platz, jemand hat irgendwie die Sitzordnung geändert, ohne mir Bescheid zu sagen.

So ein Abhandenkommen der Mimik, dass macht mir niemand so schnell nach, das ist eine eigene Kunst, mein persönliches ganz großes Kino.
Meine Augen gucken verschwommen und glasig, unfokusssiert ins Nichts, starren ins Leere, voneinander weg oder durch jemanden durch. Am Liebsten durch Leute auf der Straße, die ich kenne, die dann natürlich denken, ich würde sie hassen, weil ich nicht gegrüßt habe. Aber ich habe sie ganz simpel einfach nicht gesehen. Auch, wenn sie direkt an mir vorbeilaufen. An dieser Stelle möchte ich alle, denen das mit mir schon einmal passiert ist, bitten, mir zu verzeihen.

Meine Augenbrauen machen derweil ihr eigenes Ding, sie ziehen sich eng zusammen und beratschlagen gemeinsam, was mit den Augen denn los sein könnte. Die Nasenflügel, die ich von der mütterlichen Seite meiner Familie geerbt habe, blähen sich auf, Nüstern-artig, zucken, oft sich-abwechselnd und im Takt meiner zuckenden Augenbrauen. Die Nasenspitze, wiederum väterlicher Seite zu verdanken, stürzt sich missmutig nach vorn, nach oben, zur Seite, bloß weg von den Nasenflügeln. (Wie im richtigen Leben, in dem sich meine Eltern auch lieber voneinander weg bewegen…)
Mein Mund ist, so ganz gegen meine eigentliche Natur, ganz unbeweglich und sagt kein Wort, ein Ruhepol inmitten des Gewirrs meines restlichen Gesichts. Meist leicht geöffnet gibt er den Weg frei für Sturzbäche von Speichel und manchmal, wenn es ganz leise ist verirrt sich auch mal ein kleines Atem-Geräusch nach draußen (“chhh…”). Unterstützt wird alles vom Kiefer, der, ohne Rücksicht auf Verluste, fröhlich viel zu locker nach vorn klappt und nach links unten deutet. Vielleicht ist da ja Mekka.

Begleiterscheinungen dieser kurzzeitigen Gesichtsdeplatzierung sind Kommentare wie “Was guckst du denn so komisch?” oder “Was ist DIR denn passiert?” und werden meinerseits mit einem “oje, sorry, da ist mir mein Gesicht glaub ich kurz entgleist…” kommentiert.

Was verursacht nun eine solche Gesichtsentgleisung? Ganz sicher bin ich mir noch nicht, aber ich vermute, es liegt an den Träumereien und Grübelaktivitäten meines Gehirns. Ich lauf irgendwo hin oder steh irgendwo rum, warte auf irgendwas oder bin gerade etwas gefragt worden und ich weiß die Antwort nicht direkt und dann bin ich eben mal kurz am Nachdenken. Also abwesend. Manchmal schweife ich bei langweiligen Aktivitäten ab, fange an zu träumen und zu fantasieren, ich mache Pläne für die nächsten Tage oder Jahrzehnte, denke mir Bastelideen aus oder stelle mir vor, wie es wäre, wenn der Mensch einen zweiten Darmausgang entwickelt hätte, der sich am rechten Ellenbogen befindet. Dann scheint sich mein Kopf eben anzustrengen, ganz doll, super konzentriert, und er vergisst dann vermutlich darüber, auch dem Rest meines Kopfes (ergo: Gesicht) Bescheid zu geben, dass dabei trotzdem nett aussehen darf und nicht, als würde ich gleich jemanden treten wollen.

Dieses Abhandenkommen meines Ausdruckes fällt mir leider immer dann erst auf, wenn ich bemerke, wie mich jemand anstarrt oder auf sich aufmerksam macht; sei es aus Neugier (“guck mal, Mama, die komische Frau!”) oder aus freudiger Erwartung (“ich hatte dir eine Frage gestellt…“), vielleicht auch einfach aus einem überraschten Unglaube “…die hat mich doch jetzt ignoriert, die blöde Olle…“) oder wissenschaftlichem Eifer (“Mach das nochmal, ich muss ein Foto für das Neuro-Magazin mitbringen…“).

Ich bräuchte einen Buzzer, einen kleinen Elektroschocker, den ich mir für lange Wartezeiten oder anstrengende Denk-Marathönner ums Handgelenk binden kann. Damit könnte ich auch versuchen, mich auf irgendwas Lustiges zu konditionieren… Oder ich hänge mir ein Schildchen um, das kurz erklärt, wer ich bin, dass es mir gut geht und dass der Moment des Grauens bei meinem Anblick gleich wieder vorbei geht, ob Sie mir denn solange bei der Überlegung helfen könnten bezüglich des zweiten Darmausganges…

Bis jetzt ist mir noch niemand untergekommen, der dieses Leiden mit mir teilt, aber vielleicht fällt es mir bei anderen auch nicht so sehr auf. (Wahrscheinlich weil ich selbst wieder abgedriftet bin…).

Hans guck-in-die-Luft fällt mir da spontan ein. Der ist doch sogar gestorben, weil er so abgedriftet ist! Den hat das ganz schön was gekostet, die Träumerei… Passiert mir bestimmt auch noch. Ich ende vielleicht irgendwann wie Hans-guck-in-die-Luft… Vielleicht laufe ich auch irgendwann gegen eine Wand oder ertrinke in einem Fluss oder…oder… was ist Hans-guck-in-die-Luft nochmal passiert… Hm… Hm … cchhh …

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